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Mut braucht weniger Energie als Feigheit

Juliane Kästner: Herr Fust, sie waren im Laufe Ihres beruflichen Engagements unter anderem Direktor der OSEC und DEZA. Sie setzten sich als Geschäftsführer des Global Humanitarian Forum zusammen mit Kofi Annan und später als Counsil beim World Economic Forum für humanitäre Angelegenheiten ein. Sie waren Mitglied des Club of Rome, sind Präsident von Globethics.net und engagieren sich als Stiftungsrat in verschiedenen Organisationen für Innovation und Umwelt.

Wir befinden uns wieder in einer Globalisierungsphase mit vielen Veränderungen. Ich bezweifle jedoch, dass die Werte, zu denen wir erzogen wurden, heute bereits wieder obsolet sind.

Walter Fust: Ja, das bezweifle ich auch. Die Frage stellt sich: Wie ändert sich der Kontext? Ist die Wertebasis, an der wir uns orientieren, noch die gleiche?

Heute wird diese Diskussion über die Entwicklung von Wirtschaft, Sozialem und Umwelt geführt. Ich glaube, dass diese drei Grössen, dieses fragile Dreieck sehr tief im Bewusstsein der Menschen verankert ist. Und die Grundfläche dieses Dreiecks bildet das Regelwerk für ein gutes Zusammenleben, die Ethik.

Mit der Globalisierung, vor allem aber mit den Mitteln der Telekommunikation, ist es heute sehr leicht, miteinander in Verbindung zu treten. Aber „Connectivity“, wie man so schön sagt, allein genügt nicht. Das ist die technische Ebene. Anschliessend kommt die emotionale, die kulturelle Ebene. Und da sehe ich die meisten Brüche, weil es zum Teil an der interkulturellen Kompetenz mangelt. Den Anderen zu verstehen, heisst auch, seine eigene Kultur zu verstehen und zu akzeptieren. Man benötigt einen Referenzpunkt, an den man zurückkehren oder den man ändern kann. Und so verhält es sich auch mit den Werten.

Es gibt ja die schöne Metapher des „kulturellen Eisbergs“. Das Eis, welches aus dem Wasser ragt, ist das, was von der Kultur sichtbar ist und was sich verändert. Aber die 10/11-tel, die sich unter der Oberfläche befinden, verändern sich nicht so schnell. Diesen Teil muss man jedoch kennen, wenn man die Veränderungen an der Oberfläche verstehen will. Und ich glaube, da liegt die grosse Unsicherheit und Herausforderung.

Zu welchen Werten und Tugenden wurden Sie selbst erzogen?

Die Werte, die damals galten waren Respekt, Zuverlässigkeit, Seriosität, Konzentration auf die Aufgabe. Das war damals das Verständnis von Dauerhaftigkeit. Man soll nicht über die Verhältnisse leben und die Natur zu schätzen galt als nachhaltig.

Ich bin im Toggenburg in einer dörflichen Kultur aufgewachsen. Dort hatte das Unternehmertum und das Kapital noch ein Gesicht. Auch wenn es teils Aktionärsgesellschaften waren, gab es Unternehmer, die sich für das unmittelbar Soziale in ihrem Unternehmen und im Dorf einsetzten. Heute nennt man das salopp die „Corporate Social Responsibility“. Ist das ein Ersatz für die eher patriarchal anmutenden, früheren Unternehmen, die eine Art soziales Gewissen haben mussten, weil sie darauf angewiesen waren, gute Mitarbeiter zu finden und weil man sich vor Ort kannte?

Haben Sie das Gefühl, dass wir heute an einem Punkt stehen, an dem ein Wertewandel bevorsteht?

Ich glaube, dass es heute eine Art Zone in den Wohnquartieren nahe der Städte gibt, in die die Menschen kommen, um über Nacht zu wohnen. Diese Menschen zeigen wenig Engagement für das Gesellschaftliche oder haben keine Zeit dafür. Das sind auch politisch gesprochen jene Kreise, die nicht genau wissen, wohin sie gehören. Am Schluss kommt es darauf an, wo sich das Individuum bzw. die Familie verwirklichen kann. Verwirklichen kann sich ein Mensch ja nur, wo er sich zuhause fühlt. Wenn er Arbeit oder Zugang zu Arbeit hat, wenn er sozio-kulturell Anschluss findet, wenn er den Eindruck hat, dass das Umfeld und die Umwelt intakt sind. Es gibt natürlich auch Menschen, denen das nicht so wichtig erscheint und die dann eher in das Inkognito abtauchen. Sie wissen eigentlich nicht mehr, was ihre Identität ist. Eine virtuelle Identität ist da viel einfacher.

Ich sehe das oft bei jungen Menschen. Ich habe das Glück, auch noch an einer Universität über interkulturelle Kommunikation unterrichten zu können. Und da zeigt sich immer wieder, in welchen Welten sich die jungen Menschen bewegen, zum Teil auch wie oberflächlich die Wertekenntnisse sind.

Ich befragte zwei Nachbarskinder, zu welchen Tugenden sie erzogen werden und wie sich diese in ihrem Alltag in der Schule bewähren, insbesondere im Rahmen von Gruppendynamiken, die sehr stark sind.

Die Frage ist auch oft: Wie bringt man die eigene Identität, die eigene Echtheit in Verbindung mit der Zugehörigkeit zu einer Gruppe? Es gibt Menschen, die es verlernt haben, den unbequemen Weg zu gehen und sich zu fragen: Wer bin ich eigentlich? Was zählt für mich? Habe ich eine eigene Meinung? Wie bequem ist es doch, die Meinung anderer zu übernehmen. Diese Menschen haben irgendwann eine Identitätskrise. Diese entsteht, weil sie projizieren, wer sie sein möchten, es aber nicht sind. Sie haben ein Problem mit ihrer Authentizität, sie sind als Person nicht echt, merken das und wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen.

Wie können die jungen Menschen Zugang zum angesprochenen Wissen und Kulturverständnis bekommen?

Es ist zentral, dass sie wissen, wer ihre Bezugspersonen sind. Viele haben Probleme, diese auszuwählen. Oder sie haben sie nicht, wenn sie zuhause den Dialog nicht pflegen können. Das Wort Dialog ist entscheidend, um sie zu diesen Quellen des Wissens zu führen. Vielleicht hat das aber auch damit zu tun, dass viele Menschen verlernt haben, einander zuzuhören. Wenn sie heute im Zug reisen, ist jeder mit seinem Samsung oder seinem iPhone so beschäftigt, dass kaum mehr ein Gespräch entsteht. Vor 20 Jahren war es eine Ausnahme, dass man in einem Zugabteil kein Gespräch führte.

Es gibt unheimlich viele Informationen, die zugänglich sind. Aber das Unbequeme für viele Menschen ist ja, dass sie sich selbst damit auseinander setzen müssen. Ich glaube, früher oder später müssen das alle.

Nehmen wir das Konzept vom Platz und Raum. Alles was ich in einem virtuellen Platz schreibe, geht hinaus in den virtuellen Raum. Dieser globale Raum wird sich immer erinnern. In Kalifornien geht die höchste Selbstmordrate bei den Jugendlichen auf Internet-Mobbing zurück. Kinder und Jugendliche wissen nicht, wie mit diesen Problemen im Netz umzugehen ist, die nicht einfach verschwinden, wenn den Computer abgestellt wird. Das ist ein Zeichen, dass gewisse Werte doch wieder an Bedeutung gewinnen werden.

Welche Werte sind das?

Ich glaube, das sind einerseits Werte im Umgang mit sich selbst. Wer bin ich? Wer möchte ich sein? Und bin ich der, der ich sein möchte? Andererseits, dass ich mich mit Problemen auseinandersetze und ihnen nicht ausweiche.

Ich hatte das Glück, ein Freund von Peter Ustinov sein zu dürfen. Er hat ein Leben lang eine Devise gehabt: Wie kann man Vorurteile vermeiden und abbauen? Peter sagte immer: „Die schlimmsten Urteile sind die Vorurteile.“ Weil man durch sie einen Menschen klassiert, ohne dass man sich mit ihm oder ihr auseinander gesetzt hat, der Person gar keine Chance gibt. Man legt den Menschen irgendwo in eine Schublade. Wir müssen Vorurteile unbedingt wegschaffen.

Warum haben wir diese Wertediskussion nicht breitflächiger in der Schweiz? Vor allem in einem Land, das immer „predigt“, eine Willensnation zu sein. Aber der Wille muss doch auf irgendwelchen Werten abgestützt sein. In den Gesellschaften ist es heute nun mal so, dass sich die Kulturen vermischen. Und da kommt es unweigerlich auch zur Seinsfrage. Ich frage immer wieder auch die Studenten: „Haben Sie heute morgen in den Spiegel geschaut? Haben Sie sich wiedererkannt? Wer sind Sie? Was zeichnet Sie aus? Ich finde es immer wieder ein Erlebnis, wenn junge Menschen plötzlich beginnen, sich mit diesen Fragen auseinander zu setzen. Viele sind auch satt vom reinen Konsumieren und sie suchen Werte.

Sie haben von Echt-Sein gesprochen. Braucht es nicht auch Mut, zu sich zu stehen? In der westlichen Welt ist Homosexualität beispielsweise ein völlig akzeptierter Teil unseres Lebens, unseres Miteinanders. In Russland entwickelt sich diese Selbstverständlichkeit wieder zurück, Homosexualität ist wieder strafbar.

Ich glaube schon, dass es Mut braucht. Aber wahrscheinlich braucht der Mut weniger Energie als Feigheit. Wenn ich zu meiner Echtheit stehe, muss ich diese anderen ja nicht predigen. Ich grenze den Freiheitsgrad anderer dadurch nicht ein.

Was jetzt aber gerade passiert, ob in Russland oder in vielen afrikanischen Ländern, ist eine Auseinandersetzung mit der Geschlechtlichkeit. Das ist ein hohes Politikum geworden. Sie hat früher zum Teil des „Eisbergs der Kultur“ gehört, der unter der Oberfläche lag. Und heute haben bestimmte Personen und Kreise dieses Thema nach oben gebracht und daraus ein Programm gemacht, mit dem sie natürlich etwas ganz anderes bezwecken. Es ist schwierig, diesen Dialog wieder in eine Normalität zurückzubringen, obwohl die Breite der Normen dies heute eher zulassen würde. Die Frage ist auch, wie man diese Normen rechtlich einbindet. Aber ein Recht ist ja immer nur ein Recht, wenn man es auch einfordern kann.

Es gibt auch viele Kreise, die vor allem von ihren verbrieften Rechten sprechen. Das ist richtig so. Sie vergessen jedoch oft, dass es neben den Rechten auch eine andere Dimension gibt: die Pflichten oder Tugenden der Gesellschaft gegenüber. Zum Beispiel die Tugend der Suche nach Wahrheit oder das Bestreben, andere Menschen nicht zu verletzen. Dieser Pflichtenfrage weichen viele Menschen aus. Herr Gauck hat, bevor er Deutscher Bundespräsident wurde, in einer Rede gesagt, dass es manchmal nicht mehr so einfach sei zu wissen, ob das Konsumieren für Menschen wichtiger ist, als ein guter Staatsbürger zu sein.

Was denken Sie zu universellen Werten? Gibt es solche Werte, die uns nationenübergreifend verbinden?

Ja, es gibt sie unbedingt. Man kann sie auch in den Menschenrechten finden. Aber man muss – und das ist mein Plädoyer – dann immer wieder auch den lokalen Kontext verstehen.

Der Bericht der UNO-Kommission über die Frage „Braucht es ein neues Weltethos?“, die seinerseits von Hans Küng präsidiert wurde, beinhaltet grossartige Antworten zu diesen Fragen.

 

Herr Fust, ich bedanke mich ganz herzlich bei Ihnen für dieses Gespräch.

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