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Von blöden Parlamentariern und einer radikalen politischen Neuordnung

Juliane Kästner: Alles unterliegt unausweichlich dem Lebensverlauf von Aufwärtstrend, Höhepunkt und Abwärtstrend: der Mensch, aber auch Institutionen, Unternehmen, Weltreiche oder gar die Demokratie, sagt Philosoph Charles Handy in „The Second Curve – Thoughts on Reinventing Society“.

Von blöden Parlamentariern und einer radikalen politischen Neuordnung: Charles Handy in „The Second Curve – Thoughts on Reinventing Society“Um dem Abwärtstrends zu entrinnen, müsste eine zweite Kurve starten, bevor sich der Lebensverlauf der ersten Kurve auf dem Höhepunkt befindet. Nur so stünden Ressourcen wie Geld, Zeit und Energie zur Verfügung, um in die notwenige Neugestaltung zu investieren. Wie beurteilen Sie den aktuellen Entwicklungsstand der Demokratie? Befindet sie sich vor oder auf ihrem Höhepunkt oder bereits im Abwärtstrend?

Prof. Dr. Bruno S. Frey: Lassen Sie uns auf die Demokratien in den Ländern der Europäischen Union sowie in Ländern wie Norwegen oder der Schweiz konzentrieren.

Dann würde ich sagen, dass es enorm wichtig ist, dass wir die Demokratie weiterentwickeln. Und dies gilt insbesondere für die Europäische Union, die auch für das 21. Jahrhundert eine zukunftsweisende Richtung angeben sollte. Ihre Organisation enthält sehr wenig demokratische Elemente. Die Regierung, die Kommission, ist praktisch unabhängig von den Wählern. Das Parlament hat eine enorme Grösse und kann so leicht manipuliert werden. Diese Europäische Union, die heute im Zentrum Europas steht, ist keineswegs ein Idealbild der Demokratie für die heutige Zeit.

Wir müssen endlich beginnen, die bestehenden Demokratien auch auf nationaler Ebene weiterzuentwickeln in Richtung einer stärkeren Beteiligung durch die jeweilige Bevölkerung.

Dabei ich möchte betonen, dass es ganz entscheidend ist, nun nicht einfach nur über Referenden oder Initiativen abstimmen zu lassen, sondern dass vorher die Möglichkeit besteht, die Sachprobleme, die behandelt werden, ausführlich zu diskutieren. So können die Wählerinnen und Wähler die Vor- und Nachteile genau verstehen.

Wenn die Bevölkerung in einer repräsentativen Demokratie nun befragt wird, – und lassen wir kurz aussen vor, ob die Sachprobleme im Vorfeld ausführlich diskutiert wurden – besteht dann nicht die Gefahr von Protestwahlen? Die Bevölkerung wird nun erstmalig nach ihrer Meinung gefragt und …

… Ja, weil das politische Establishment auf die Anliegen der normalen Bürgerinnen und Bürger zuvor nicht gehört hat.

Vor einigen Jahren verfolgte ich im deutschen Fernsehen eine Politsendung, in der Jungpolitiker darüber diskutierten, ob Deutschland für eine halbdirekte Demokratie überhaupt bereit sei. Ob die eigenen Bürgerinnen und Bürger befähigt seien, „komplexe Themen“ zu verstehen und über diese abstimmen zu können.

Besteht denn die Vorstellung der Gegner direkter Demokratien darin, dass Menschen blöd sind?

Ich lehne eine solche Vorstellung entschieden ab. Wenn jemand blöd ist, dann sind es eher die Parlamentier. Diese sind ja für die aktuellen Probleme verantwortlich.

Zur Vorstellung, dass Parlamentarier allwissend seien… Es gibt empirische Evidenz dafür, dass sie über sehr wenig Wissen verfügen. Es sei denn, sie arbeiten in einer spezifischen Kommission, in der Fachthemen behandelt werden.

In Deutschland steht zwar im Grundgesetz, jeder Parlamentarier sollte nach besten Wissen und Gewissen entscheiden. Aber jeder weiss, dass nicht nach dieser Maxime gehandelt wird. Parlamentariern wird durch die Parteileitung vorgeschrieben, wie sie zu entscheiden haben.

Das Volk erkennt seine eigenen Probleme besser, als ein Parlamentarier, der bereits zu Beginn seines Studiums in eine Partei eintritt, anschliessend seine Zeit hauptsächlich in Sitzungen verbringt und – es tut mir leid, dies sagen zu müssen – wenig Ahnung hat von dem, was in der Welt passiert. Parlamentarier reden in ihren Sitzungen vor allem miteinander und wenig mit dem Volk selbst.

Aber sie können etwas hervorragend: reden. Das normale Volk hat demgegenüber noch andere Bedürfnisse und ist nicht so gut darauf trainiert, nur daherzureden.

Und dies führt leider dazu, dass man die Parlamentarier zu ernst nimmt. Die Bevölkerung kann sich vielleicht nicht so gut ausdrücken, aber das ist ja auch nicht ihre Aufgabe.

Bruno S. Frey gehört gemäss NZZ-Ranking zu den drei einflussreichsten Ökonomen der Schweiz und ist ständiger Gastprofessor für Politische Ökonomie an der Universität Basel. Er war als Professor an den Universitäten Zürich, Chicago und Konstanz tätig, an der Warwick Business School und als Gastprofessor an der Zeppelin-Universität. Bruno Frey setzt sich mit Themen der politischen Ökonomie wie Terrorismus oder Demokratie auseinander, mit Verhaltensökonomie, Glücksforschung oder Kunst- und Kulturökonomie. 2014 übernahm er als einer von drei Direktoren die Leitung des Center for Research in Economics (CREW) an der Universität Basel, sowie das Center for Research in Economics, Management, and the Arts (CREMA) in Zürich.

 

Nehmen wir doch kurz Frankreich als Beispiel. Welchen Weg würden Sie für die Einführung einer halbdirekten Demokratie vorschlagen?

Ich würde zuerst bei den Gemeinden beginnen und auf dieser Ebene Abstimmungen durch die Bevölkerung durchführen und Referenden ermöglichen.

Gleichzeitig würde ich energisch dezentralisieren. Eine Dezentralisierung im ernsthaften Sinne bedeutet immer, dass die Regionen oder dezentralen Einheiten ihre eigenen Steuern erheben dürfen und über ihre eigenen Ausgaben beschliessen können. Das ist das Entscheidende.

Als dritte Stufe würde ich schliesslich Volksabstimmungen auch auf Ebene des Nationalstaats Frankreich vorschlagen.

Wenn wir die Schweiz anschauen, so wird davon gesprochen, dass es in der zurückliegenden Zeit zu viel Abstimmungen gegeben habe, dass die Menschen davon müde geworden seien. Sehen Sie Entwicklungspotential der halbdirekten Demokratie in der Schweiz?

Wir können in der Schweiz innerhalb von vier Jahren etwa über 40 bis 50 Angelegenheiten entscheiden. Ein deutscher Bürger darf in vier Jahren ein einziges Mal über eine Angelegenheit entscheiden. Und dass dann die Wahlbeteiligung in Deutschland höher ist, als im Durchschnitt in der Schweiz, ist offensichtlich.

Es gibt bei uns Abstimmungen und Referenden, die wichtig sind und andere, die weniger wichtig sind. Und da sehen wir etwas sehr Interessantes. Bei wichtigen Abstimmungen, zum Beispiel ob die Schweiz der Europäischen Union beitreten oder ob die Armee abgeschafft werden soll, geht die Stimmbeteiligung stark nach oben. Und bei anderen Angelegenheiten, die eben nicht sehr wichtig sind, ist die Stimmbeteiligung eher niedrig. Und das ist für mich ein Zeichen einer lebendigen Demokratie.

Und ja, das demokratische System der Schweiz sollte dringend weiterentwickelt werden. Ich schlage insbesondere vor, den ausländischen Einwohnerinnen und Einwohnern schrittweise ein Stimmrecht einzuräumen. Schrittweise bedeutet nach meinem Vorschlag, dass der Stimme eines Menschen, der seit zwei Jahren in der Schweiz lebt, ein Gewicht von 20 Prozent gegeben wird, nach fünf Jahren vielleicht 50 Prozent und nach zehn Jahren volles Stimmengewicht. Im ersten Moment klingt dies vielleicht kompliziert. Aber im Zeitalter der digitalen Welt sollte das kein Problem darstellen.

Die ausländischen Einwohner werden dann auch beginnen, sich mehr für die politischen Themen in der Schweiz zu interessieren.

Ich habe diesen Vorschlag bereits in der Neuen Zürcher Zeitung geäussert, aber dieser hat nicht sehr viel Zustimmung gefunden, weil er vielleicht doch zu revolutionär erscheint.

Würde die SVP dann nicht gleich mit ihrer Angst vor Unterwanderung hausieren, mit der Angst davor, von Ausländern unterwandert zu werden, die dann auch noch das politische System nach ihren Vorstellungen verändern können?

Ich sehe nicht, dass mein Vorschlag dazu führen könnte, das „Schweizertum“ auszulöschen. Das Schweizer System bewährt sich im Grossen und Ganzen recht gut. Und das stellen auch unsere ausländischen Einwohnerinnen und Einwohner fest.

Dass bei uns der Personenverkehr gut funktioniert oder die öffentliche und soziale Sicherheit hoch ist, hat nichts mit Schweizer Genen zu tun. Ausländische Einwohner erkennen, dass es sich in der Schweiz um ein politisches und gesellschaftliches System handelt, welches in einiger Hinsicht besser funktioniert als zum Beispiel in Spanien oder Italien.

Wenn sich diese Menschen dann politisch beteiligen können, können sie so auch ihre Zustimmung zu unserem System ausdrücken.

Seit einigen Jahren debattiert man über alternative Wirtschaftsordnungen. Sehen Sie in diesem Kontext auch alternative politische Systeme zur Demokratie?

Ich sehe neue Arten der Dezentralisierung basierend auf Problemen. Was wir heute vorfinden, ist eine Dezentralisierung nach historischen Grenzen. Das Gebiet des Vorarlbergs gehört beispielsweise zu Österreich und nicht zur Schweiz, Schaffhausen gehört nicht zu Baden-Württemberg sondern zur Schweiz.

Ich würde es gern umgekehrt auf Basis aktueller Probleme gestalten. Die Alpen beispielsweise haben Probleme mit Verkehr, Umwelt oder Entvölkerung. Zu deren Lösung könnten wir Einheiten bilden, politische Körperschaften, welche die richtige territoriale Ausbreitung haben. Und da würde eben zum Beispiel Österreich, die Schweiz, Frankreich und Italien dazugehören, aber ganz eindeutig nicht Estland oder Portugal.

Die Europäische Union hat meines Erachtens nicht die richtigen Entscheidungsgremien. Die Institution in ihrer Gesamtheit sieht es für sinnvoll an, über Sachthemen, welche die Alpen betreffen, zu befinden. Iren und Letten entscheiden dann über Lösungen zu lokalen Umweltproblemen in den Alpen.

Die Schaffung der richtigen politischen Körperschaften wäre mein Idealbild. Wir hätten dann sehr viele unterschiedliche Körperschaften in unterschiedlichen Grössen. Umweltprobleme könnten rein lokal durch kleine Körperschaften gelöst werden, Probleme des Freihandels durch eine grosse politische Körperschaft. Das wäre meine radikale Neuordnung der Politik der Zukunft.

Was passiert dann mit den Nationalstaaten?

Ich würde die Nationalstaaten nicht abschaffen, weil man dies schwer kann. Aber ich würde sie der Konkurrenz mit politischen Körperschaften unterziehen. Diese neuen föderalen Körperschaften heissen FOCJ, Functional Overlapping Competing Jurisdictions.

Wenn die neuen Körperschaften lebendig werden, dann werden die Nationalstaaten allmählich selbst an Bedeutung verlieren.

Müsste eine Körperschaft, die nach der Erfüllung ihres Zwecks, respektive nach der Lösung der ihr angetragenen Probleme, sich dann nicht auch selbst wieder auflösen?

Ja, das ist sehr wichtig. Körperschaften können ihre eigenen Steuern erheben und über ihre Ausgaben entscheiden. Gemeinden als Mitglieder dieser Körperschaften können jederzeit austreten, wenn der jeweilige Zweck erfüllt ist oder sie mit dem Fortschritt der Problemlösung nicht zufrieden sind.

 

Lieber Herr Frey, ich bedanke mich ganz herzlich bei Ihnen für dieses interessante Gespräch.

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