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“Bück dich hoch”

“Bück dich hoch”

Die deutsche Hip-Hop und Elektropunk-Formation Deichkind stellt in ihrem Lied “Bück dich hoch” ihre naturgemäss provokative Sicht auf die heutige Arbeitswelt dar: “Halt die Deadline ein, so ist’s fein! Hol’ die Ellenbogen raus, burn dich aus! 24/7, 8 bis 8, was geht ab, machste schlapp, what the fuck?! Das muss heute noch zum Chef, besser jetzt! Fleissig Überstunden, ganz normal!”

“Burn dich aus, machste schlapp, what the fuck?!”

Es wird zwar sehr viel über Burn Out geschrieben und diskutiert.  Ich stelle jedoch immer wieder fest, dass vor allem ein Halbwissen sowie festsitzende Vorurteile über die Erschöpfungsdepression in unserer Gesellschaft verbreitet sind.

Die einen belächeln lang die öffentliche Diskussionen und sprechen von “Modediagnose” und “Pseudo-Epidemie”. Bis sich Carsten Schloter, CEO von Swisscom, 2013 das Leben nimmt und die Schweizer Wirtschaft erschüttert reagiert. Weitere, prominente Beispiele kommen durch die Presse ans Tageslicht.

Für Betroffene stellt ihre Erschöpfung und die daran anschliessende Depression ein Tabuthema dar. Sie haben noch immer Angst, stigmatisiert zu werden.  Aus diesem Grund diese kurze Aufklärungsarbeit, ohne das Krankheitsbild wiederholt darzustellen.

Referenz für ein hohes persönliches Engagement

Neben dem Umstand, dass es bis dato noch keine allgemein akzeptierte Definition von Burn Out gibt, bestehen vor allem zwei gegensätzliche Meinungen zu den Ursachen der Erschöpfungsdepression.

Die eine Fraktion sieht die Ursachen der Erkrankung vor allem in der Persönlichkeit, dem Charakter der Betroffenen. Wilmar Schaufeli und Christina Maslach, Psychologie-Professoren an der Universität Utrecht respektive Berkeley, betonen als Vertreter der anderen Fraktion “…, dass die Ursachen von Burnout im Wesentlichen nicht in den Persönlichkeitszügen der Betroffenen, sondern in den wirksamen und strukturellen Merkmalen von ungünstigem Umfeld bei der Arbeit liegen.”

Dr. med. Torsten Berghändler, Chefarzt für Psychosomatik an der Fachklinik für kardiale und psychosomatische Rehabilitation in Gais, erklärt, dass jemand, der “nur seinen Job macht”, selten ein Burn Out entwickelt. Er nennt als Risikofaktoren neben der persönlichen Ebene (hohe Erwartungen an sich selbst, Übernahme von Verantwortung) vor allem die zwischenmenschliche (keine gegenseitige Wertschätzung, Spannungen mit Vorgesetzten) und institutionelle (Personalknappheit, hohe Arbeitslast ohne Hoffnung auf Änderung) Ebene.

Höchst belastende Arbeitsplätze

In ihrem Buch “Der Weg zu Burnout-freien Arbeitswelten” geht Ruth Tröster detailliert auf höchstbelastende Arbeitsplätze ein und definiert für diese drei Kennzeichen:

  • geringe Entscheidungsfreiheit
  • viel Herausforderung
  • hohe bis überwältigende Anforderungen von aussen

Die Risiken, in einem solchen Umfeld an einem Burn Out zu erkranken, steigen stark an, wenn die Rolle nicht klar definiert ist (role ambiguity), wenn sie überfrachtet (role overload) oder auch wenn der oder die Rolleninhaber/in Anfeindungen ausgesetzt ist (role hostility).

Ruth Tröster führt weiter aus, dass es für Vorgesetzte zwei Anreize gibt, die Arbeitslast ihrer Mitarbeiter zu erhöhen. Delegieren sie ihre Verantwortung, können sie bei positiven Arbeitsergebnissen den Erfolg ernten, bei negativem Ergebnis verfügen sie über einen Sündenbock (role ambiguity). Beim zweiten Anreiz geht es darum, zu ambitionierte Mitarbeiter als mögliche Konkurrenten in ihre Schranken zu weisen (role hostility). Die kontinuierliche Steigerung der Arbeitslast durch den Vorgesetzten durchhöhlt die Bedrohung des untergebenen Mitarbeiters weiter (role overload).

Job-Stress-Index

Die Gesundheitsförderung Schweiz ist eine mit öffentlichen Geldern finanzierte Organisation und per Gesetzesauftrag um das leibliche und psychische Wohl der Schweizer Bevölkerung besorgt. Sie ermittelt zusammen mit der Universität Bern und der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften seit letztem Jahr drei Kennzahlen: den Job-Stress-Index, die Erschöpfungsrate und das ökonomische Potential von Verbesserungen im Job-Stress-Index. Diese Kennzahlen sollen die Auswirkungen wie auch die jährliche Entwicklung von Stress im Arbeitsumfeld auf die Gesundheit und Produktivität von Erwerbstätigen aufzeigen.

Für das Jahr 2014 stellt die Gesundheitsförderung in ihrem Job-Stress-Index fest, dass 24.8% der Erwerbstätigen in der Schweiz verhältnismässig mehr Belastungen als Ressourcen an ihrem Arbeitsplatz haben. Die Erschöpfungsrate zeigt auf, dass 24% der inländischen Erwerbstätigen ziemlich oder stark erschöpft sind. “Erschöpfung beinhaltet das Gefühl der Überbeanspruchung, des Energieverlustes und des Ausgelaugtseins. Sie ist die zentrale und offensichtlichste der drei Dimensionen des Burnout-Syndroms.”

Die dritte Kennzahl, das ökonomische Potential, weist aus, wie sich die gesamte Produktivität verbessern würde, wenn für die Erwerbstätigen Belastungen und Ressourcen in einem adäquaten Verhältnis stehen. Das ökonomische Potential im Jahr 2014 beläuft sich auf 5.58 Milliarden Franken, bestehend aus einer verbesserten Arbeitsleistung (75%) und einer Reduktion der Fehlzeiten (25%).

Jürg Zellweger vom Arbeitgeberverband reagiert kritisch und ablehnend auf das Ergebnis des erstmals erfassten Job-Stress-Indexes. Er würde den Unternehmen nichts bringen, sondern eine “Wohlfühl-Hysterie” und eine übertriebene Sensibilisierung bei den Arbeitnehmern herbeiführen.

Denken und Handeln in Chancen

Arbeitgeber können den Index aber auch als Chance oder wertvollen Input interpretieren. Dabei bestehen unterschiedliche Möglichkeiten vor allem mit mittel- und langfristigem Zielcharakter.

Sie könnten das ökonomische Potential den zusätzlichen Lohnkosten gegenüberstellen, die notwendig sind, um Belastungen und Ressourcen in ein Gleichgewicht zu bringen. Ist das Potential des Produktivitätsgewinns höher und die zusätzlichen Absatzchancen realistisch, lohnt es sich, den Personalbestand analog auszubauen.

Ist dies nicht der Fall, besteht die Herstellung eines Belastungen-Ressourcen-Gleichgewichts ganz einfach darin, die Belastungen zu reduzieren, indem sich die Unternehmen auf einzelne Vorhaben fokussieren und die damit einhergehenden anstehenden Aufgaben entsprechend priorisieren.

Nicht zu vergessen, ist es für die Arbeitgeber auch empfehlenswert, die angesprochenen strukturellen Risikofaktoren höchst belastender Arbeitsplätze anzugehen und zu minimieren. Einerseits steigern sie damit die Wahrscheinlichkeit, bestehende Leistungsträger zu halten. Andererseits erkundigen sich heute potentielle Leistungsträger oder “High Performers”  im vorab sehr genau über das Image und das Arbeitsklima ihres zukünftigen Arbeitgebers.

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Teleportation und Parties auf dem Mars?

Teleportation und Parties auf dem Mars?

“Okay, lass uns spielen. Zuerst musst du dir die Zukunft vorstellen. Die gute Zukunft. Keine Atombomben. Stell dir vor, du bist ein Science-Fiction-Autor.”

Okay: “Weltregierung … Krebs ist besiegt … Hoverboards.”

“Geh weiter. Wie sieht die gute Zukunft danach aus?”

“Raumschiffe. Parties auf dem Mars.”

“Noch weiter.”

“Star Trek. Teleportation. Jeder geht, wohin er will.”

“Noch weiter.”

Ich überlege einen Moment und erkenne dann: “Kann ich nicht.”

Kat schüttelt den Kopf. “Es ist total schwer. Und das sind, was, tausend Jahre? Was kommt danach? Was könnte danach überhaupt noch kommen? Es übersteigt die Fantasie. Wir können uns wahrscheinlich nur Dinge vorstellen, die auf dem basieren, was wir schon wissen, und für das einunddreissigste Jahrhundert haben wir keine Analogien mehr parat.” (Auszug aus Robin Sloan: “Die sonderbare Buchhandlung des Mr. Penumbra”)

Plusquamperfekt, Präteritum und Präsens

Gehen wir einen kurzen Schritt zurück. Wie sieht unsere Entwicklung als Homo sapiens bis anhin aus? Eine Frage, die auf vielfältige Weise beantwortet werden kann.

Wir könnten uns an den Erfindungen und den Technologien orientieren, die unser Leben über die Jahrtausende bestimmt haben: die Beherrschung des Feuers, die Entwicklung des Rads, von Segelbooten oder Nadeln bis hin zur Antibabypille und dem Internet.

Oder wir könnten unsere Entwicklung bewerten anhand der Art und Weise, wie wir zusammenleben als Menschen untereinander, wie wir mit den anderen Tieren, der Umwelt oder den Ressourcen auf unserem Planeten interagieren und umgehen. Über den Frieden auf der Welt, über Staats- und Rechtssysteme, über unsere Entfaltung als soziales und menschliches Wesen.

Dr. Yuval Noah Harari zieht in “Eine kurze Geschichte der Menschheit” eine weitere Sichtweise in Betracht. Er spricht von der kognitiven Revolution (vor 70’000 Jahren), der Ackerbau-Revolution (vor 12’000 Jahren) und der wissenschaftlichen Revolution (vor 500 Jahren). Er sagt, dass wir als Menschen den Planeten Erde beherrschen, weil wir das einzige Tier sind, dass an Dinge glaubt, die einzig in unserer eigenen Vorstellung existieren, wie Götter, Staaten oder Geld. Harari stellt fest, dass Geld das einzige ist, dem wir wirklich vertrauen. Weizen hat den Menschen domestiziert und nicht umgekehrt. Kapitalismus ist seiner Meinung nach eher eine Religion als eine Wirtschaftstheorie, die erfolgreichste Religion bis dato. Und er sagt auch, dass wir heute zwar über mehr Macht als unsere Vorfahren verfügen, aber nicht glücklicher sind.

Plantons Höhlengleichnis und Mathematik – Präsens

Teleportation und Parties auf dem Mars?: Plantons Höhlengleichnis und Mathematik

Das Höhlengleichnis beschreibt aus philosophischer Sicht die Bildung und Unbildung des Menschen und stellt diese bildlich so dar: In einer unterirdischen Höhle mit Ein- und Ausgang gibt es eine lange Mauer. Hinter dieser Mauer leben Menschen – angekettet seit ihrer Kindheit – , die ihren Blick lediglich nach vorn an die Höhlenwand richten können. Sie kennen die eigentliche Welt um sie herum nicht: die Gegenstände auf der Mauer, die Menschen, die sich hinter der Mauer bewegen, den Ausgang aus der Höhle und die Welt, die sich ausserhalb der Höhle befindet. Diese angeketteten Menschen sehen ausschliesslich die Schattenbilder, die sich durch Feuer in der Höhle auf ihre Wand projizieren.

Diese Schattenbilder, das Echo der Stimmen der anderen Menschen und die Bewegungen stellen für die Angeketteten ihre gesamte Wirklichkeit dar, die sie als Wahrheit betrachten. Aus den von ihnen über ihre Sinne wahrnehmbaren Phänomenen leiten sie ihre Wissenschaften ab und versuchen, Gesetzmässigkeiten festzustellen.

Ich behaupte, dass wir diese angeketteten Menschen sind und in einer eingeschränkten Realität leben. Wir haben aus dieser begrenzten Sicht ein System geschaffen wie die Mathematik, auf der all unsere Wissenschaften aufbauen.

Phänomene, die wir mit diesen begrenzten Wissenschaften nicht messen und erklären können, werden von den meisten Wissenschaftlern als nicht existent deklariert. Intuitive Impulse des Menschen werden durch Ratio unterdrückt.

Stellt ein Wissenschaftler ein Versuchskonzept auf, nimmt er automatisch Einfluss auf dessen Ergebnis. Wir arbeiten in Denkmustern, über dessen Grenzen es uns unheimlich schwer fällt, hinauszugehen.

Unsere Wissenschaften, unsere Wirtschaft, unsere Systeme arbeiten mehrheitlich mit dem Konzept linearer Entwicklung gegenüber einer immer komplexer werdenden Welt mit unvorhersehbarem Verhalten.

Um uns in grösseren Dimensionen weiterzuentwickeln, ist es unsere Aufgabe, uns von unserem althergebrachten Denken zu befreien, die Ketten abzulegen und die Welt ausserhalb der Höhle zu entdecken. Dies klingt doch wie eine gute, ideologische Kampfparole, nicht?

Menschen werden Götter – Zukunft f(x)

Teleportation und Parties auf dem Mars?: Menschen werden Götter

Ich komme zurück auf Dr. Yuval Noah Harari. Für unsere Zukunft sagt er voraus, dass wir als Menschen bald verschwinden werden. Mithilfe von neuen Technologien werden wir selbst als vollkommen andere Wesen aufsteigen, die Gott-gleiche Merkmale und Möglichkeiten geniessen werden. “History began when humans invented gods – and will end when humans become gods.”

Nehmen wir diese seine Vorstellung einmal auf. Wir leben heute in einem Körper, der gewartet werden muss. Wir müssen ihm Energie zuführen (essen, trinken), ihn pflegen (waschen, cremen, rasieren, Nägel schneiden), ihn schützen (warme Kleidung, Sonnencreme), ihm Erholung zukommen lassen (schlafen) und ihn reproduzieren (Erhalt der Menschheit durch Fortpflanzung und Grossziehen). Was für ein Zeitaufwand. Ausserdem ist dieser Körper äusserst anfällig (Krankheiten) und hat eine begrenzte Lebensdauer.

… wir leben heute in einem Körper: unsere Seele, unser Geist und unser Bewusstsein ist an Materie gebunden. Seele, Geist, Bewusstsein sind Begriffe, die wir zwar ständig benutzen, über dessen Definition jedoch keine Einigkeit besteht:

Die Vorstellung einer Seele ist religiös und philosophisch motiviert, ein immaterielles Prinzip und vom Körper unabhängig. Der Geist ist wiederum Bestandteil religiösen Denkens (nicht an den Körper gebunden, von Gott geschaffen oder ihm wesensgleich) aber auch von naturwissenschaftlichem Belang (neuronale Aktivitäten wie Denken und Entscheiden). Das Bewusstsein wird in den Naturwissenschaften, der Philosophie und Psychologie behandelt in Form von Bewusstseinszuständen (Schlaf, Bewusstlosigkeit), Gedanken, dem Erinnern und Planen, kann aber nicht erklärt werden, weil es nicht materiell sei.

Der Einfachheit halber treffe ich die Annahme, dass Seele/Geist/Bewusstsein (S/G/B) über eine grosse gemeinsame Schnittstelle verfügen oder ein und dasselbe sind. Wenn S/G/B nicht materiell ist und nicht an einen Körper, also an Materie gebunden ist, könnten wir S/G/B dann nicht einfach von unserem Körper lösen und in die uns umgebende Energie fliessen lassen? Würden wir damit nicht automatisch den Wartungsaufwand, die Anfälligkeit und Sterblichkeit unseres materiellen Körpers überwinden und den damit entstehenden Freiraum für unsere Weiterentwicklung nutzen können? Gewagte These.

Ich habe sie mit einer guten Freundin und langjährigen Physikerin am CERN diskutiert, mit der man wunderbar stundenlange wissenschaftliche und philosophische Gespräche führen kann und dabei das Gefühl hat, sich ausserhalb der Höhle zu bewegen.

Trotz unserem beschränkten Höhlendenken denken wir zu wissen, dass besagte gewagte These theoretisch möglich ist. In elektromagnetischen Feldern benötigt Energie keine Materie, um zu fliessen. Sollte S/G/B über eine eigene Masse verfügen, könnte diese auch in andere Formen von Energie umgewandelt werden. Wunderbar.

Der Planet Erde, Pflanzen, Tiere, Flüsse, Meere, die Ozonschicht wäre vom Tier Mensch befreit. Und für den Homo navitas (navitas (lat.) = Energie) und ehemaligen Homo sapiens ergäben sich undenkbare Möglichkeiten der Entwicklung auf geistiger (seelischer, Bewusstseins-) Ebene.

Ein Schritt nach dem anderen – Zukunft I

Doch was passiert auf dem Weg dahin? Was sind unsere nächsten Schritte hin zur von Dr. Harari vorausgesagten Göttlichkeit?

Ein bedingungsloses Grundeinkommen, eine Weltregierung, Weltfrieden, die Abschaffung von Atombomben, der Sieg über den Krebs, Hoverboards, Raumschiffe oder Parties auf dem Mars (nicht gezwungenermassen in dieser Reihenfolge)?

Was denken Sie, wie unser Dasein in 1000, 10000 oder 30000 Jahren aussehen könnte?

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Deine Science Fiction – Heldin!

Deine Science Fiction – Heldin!

Für einen schwungvollen Start in die Woche habe ich für Sie eine Liste berühmter Science Fiction – Heldinnen erstellt. Welche dieser Heldinnen gefällt Ihnen am besten? Welche würden Sie in der Reihenfolge der Wichtigkeit höher bewerten? Welche Heldin vermissen Sie in der Liste? Sie sind herzlich eingeladen, Ihre eigene Version der wichtigsten Science Fiction – Heldinnen zu erstellen. Ich wünsche Ihnen einen wundervollen Montag!

Lists on Ranker

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“Ja, ich will.” – Wirklich?

“Ja, ich will.” – Wirklich?

Das geltende Steuer-, Sozialversicherungs- und Erbrecht in der Schweiz hinkt der neuen gesellschaftlichen Realität hinterher. Diese Rechtsgrundlagen erhalten damit ein steigendes Ungleichgewicht der Rechte und Pflichten zwischen den verschiedenen gelebten Lebensgemeinschaften aufrecht. Wir Menschen gestalten unser Leben heute als verheiratete Paare oder im Konkubinat, in eingetragenen Partnerschaften, als Singles, als Alleinerziehende oder in Patchworkfamilien.

Verheiratete, doppelverdienende Paare tragen gegenüber doppelverdienenden Konkubinatspaaren eine höhere Steuerlast, die “steuerliche Heiratsstrafe”. Der Bezug der Altersrente für Ehepaare ist auf das Anderthalbfache der maximalen AHV-Rente plafoniert, während Konkubinatspaare zwei volle Renten erhalten. Das Erbrecht enthält keine Gesetzgebung für unverheiratete Lebenspartner,  Konkubinatspaare sind gegenseitig nicht automatisch erbberechtigt.

Gesellschaftliche Realität

Die traditionelle Familie mit Mutter, Vater und Kind(ern) stellt zwar noch die häufigste Lebensform in der Schweiz dar, verliert jedoch immer mehr an Bedeutung. Konkubinatspaare ohne Kinder verzeichneten zwischen 1980 und 2000 eine Zunahme von 180%, solche mit Kindern von 184%.

Der Soziologe Prof. Dr. François Höpflinger setzte sich mit der Geschichte der Ehe in der Schweiz auseinander: “Die Institution der Ehe erfüllte von Beginn an gesellschaftliche Ordnungs- und Schutzfunktionen: Erstens wurde mit Hilfe der Ehe das Verhalten junger Frauen kontrolliert. Gleichzeitig war die Ehe eine Einrichtung zur Kanalisierung männlicher Sexualität.” Sie stellte eine Institution zur Regelung von Geburten und Kindererziehung, wie auch zur väterlichen Verantwortung für die Nachkommen dar. Die Ehe bestimmte das häusliche Zusammenleben und war vor der Einführung des Wohlfahrtsstaates die wichtigste Not- und Solidargemeinschaft.

Die Rolle der unmündigen Frau und die des Mannes als beherrschendes Familienoberhaupt hat sich geändert. Die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern ist in Artikel 8 Absatz 3 der Schweizerischen Bundesverfassung verankert. Frauen und Männer entscheiden heute selbstbestimmt , ob und in welcher Form der Partnerschaft sie leben und wie sie ihre Sexualität ausleben möchten. DNA-Tests weisen im Streitfall die Vaterschaft nach. Gerichte entscheiden über das Sorgerecht und die damit einhergehenden Rechte und Pflichten der beiden Elternteile gegenüber ihrem Kind. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde der Wohlfahrtsstaat Schweiz Schritt für Schritt auf- und ausgebaut.

Die Gapminder-Grafik zeigt die Entwicklung des Wohlstands in Verbindung mit der Anzahl Kinder pro Frau in der Schweiz seit 1800 auf.

“Ja, ich will.” – Wirklich?: Gapminder

 Verstoss gegen den Grundsatz der Rechtsgleichheit

1984 entschied das Bundesgericht, dass eine deutlich höhere Steuerbelastung von Ehepaaren gegenüber Konkubinatspaaren gegen den Grundsatz der Rechtsgleichheit von Artikel 8 der Bundesverfassung verstösst.

Die direkte Bundessteuer bestraft verheiratete Doppelverdiener ab einem mittleren Gesamteinkommen mit bis zu einer über 10% höheren Steuerbelastung. Niedrige gemeinsame Einkommen sind gegenüber Konkubinatspaaren steuerlich begünstigt.

Die Kantone gewährten aufgrund des Bundesgerichtsentscheids entsprechende Steuererleichterungen. Eine Studie der Eidgenössischen Steuerverwaltung ESTV vom Januar 2014 zeigt jedoch auf, dass weiterhin höhere Steuerbelastungen für doppelverdienende Ehepaare bestehen: ab mittleren Gesamteinkommen im Kanton Zürich und Tessin und für niedrige Einkommen im Kanton Aargau und Waadt.

Kann sich beispielsweise der Kanton Zürich als drittwirtschaftsstärkster Kanton der Schweiz (nach Genf und Zug) einen derartigen Anreiz für Ehepaare im Erwerbsalter wirklich langfristig leisten? Einen konstruierten Anreiz, Teilzeit- oder Einzelverdiener-Arbeitsmodelle zu belohnen? Verzichtet der Kanton damit nicht automatisch auf höhere Einnahmen aus der Einkommensteuer? Müssen die Gemeinden dadurch nicht auch später die damit einhergehenden niedrigeren Renten der Ehepaare durch Transferzahlungen kompensieren? Soll dieser Anreiz dazu dienen, die traditionelle – in der Realität bereits überholte – Rollenteilung von Frau und Mann zu retten? Nennt sich die SVP – mit 30 Prozent die im Kantonsrat am stärksten vertretene Partei – nicht “Partei des Mittelstandes”?

 “Was bisher geschah”

Die CVP reicht im November 2012 die “Volksinitiative für Ehe und Familie – gegen die Heiratsstrafe” ein. Ziel ihrer Initiative ist die Beseitigung der Benachteiligung verheirateter Paare gegenüber anderen Lebensgemeinschaften bei den Steuern und der AHV. Teil dieses Vorschlags ist unter anderem die Aufnahme der Definition Ehe als eine “auf Dauer angelegte und gesetzlich geregelte Lebensgemeinschaft von Mann und Frau” in die Schweizer Bundesverfassung.

Im Oktober 2013 empfiehlt der Bundesrat die Initiative zur Annahme: beschränkt auf die Thematik der direkten Bundessteuer. Aus Sicht des Bundesrates  besteht im Bereich der Sozialversicherungen kein Handlungsbedarf.

Die Wirtschaftskommission des Nationalrates diskutiert bereits im selben Monat Varianten für einen direkten Gegenentwurf, um auf die Problematik einer möglichen Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften einzugehen.

Im Februar 2014 spricht sich auch die Konferenz der kantonalen Finanzdirektoren für die Beseitigung der sogenannten Heiratsstrafe aus. Im Rahmen der Sozialversicherungen sieht sie Raum für Kompromisse.

Die Finanzkommission des Ständerates sieht im darauffolgenden März einen Systemwechsel hin zur Individualbesteuerung als unmöglich an und sistiert erst einmal das Geschäft, bis sich die Wirtschaftskommission des Nationalrates “mit diesen drei spezifischen Punkten befasst hat”. In der Zwischenzeit lehnen die Grünliberalen die Initiative in ihrer ursprünglichen Form ab, SP und FDP schlagen eine Individualbesteuerung vor, CVP und SVP ein Splitting-Modell.

Die Wirtschaftskommission des Nationalrates gibt den Auftrag für die Erarbeitung eines Gegenvorschlag an das Bundesamt für Justiz weiter. Das BJ schlägt im April 2014 die Ergänzung der Bundesverfassung mit folgendem Satz vor: “Die Ehe darf gegenüber anderen Lebensformen nicht benachteiligt werden, namentlich nicht bei den Steuern und Sozialversicherungen.” Auf diesem Weg ist nicht nur die Diskriminierung anderer Lebensgemeinschaften aufgehoben (siehe CVP-Definition der Ehe) und die Möglichkeit für eine Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren geschaffen. Ein späterer Wechsel zur Individualbesteuerung ist ohne eine weitere Verfassungsänderung damit auch für Ehepaare möglich.

Im Juni 2014 verabschiedet die Wirtschaftskommission des Nationalrates den Gegenentwurf des BJ und legt diesen einem ausgewählten Adressatenkreis zur Konsultation vor (Pink Cross, LOS, Kantone, in der Bundesversammlung vertretene Parteien). Sie wird über dessen Ergebnisse im vierten Quartal beraten.

Und das Erbrecht?

Ständerat Felix Gutzweiler (FDP) reichte 2010 die Motion “Für ein zeitgemässes Erbrecht” ein, welches auch den Einbezug von Konkubinatspartnern in das Erb- und Pflichtteilrecht beinhaltete. Der Ständerat nahm die Motion an. Im März 2011 stellte der Nationalrat jedoch die Streichung der erblichen Gleichberechtigung von Konkubinats- mit Ehepaaren als Bedingung zur Annahme. Er beschloss des Weiteren, dass “die Familie als institutionelle Konstante auch weiterhin geschützt werden muss.”

Der Bundesrat wurde daraufhin beauftragt, das über hunderjährige Erb- und Plichtteilrecht flexibler auszugestalten und beantragte im August 2010 die Annahme der Motion. Stand der Beratung ist “überwiesen” mit Zuständigkeit beim EJPD.

“Gute” und innovative Schweiz

Der “Good Country Index” misst, was jedes einzelne Land zum Wohl der Gesellschaft und der Menschheit auf der ganzen Welt beiträgt. Die Schweiz belegt den dritten Platz. (yeah!)

Der “Global Innovation Index” besteht aus einem Ranking der Innovations-Fähigkeiten und -Resultate der verschiedenen Länder. Die Schweiz belegt den ersten Platz. (und nochmal yeah!)

Haben wir damit nicht die optimalsten Vorraussetzungen, kreative Lösungen zu finden und Tatsachen zu schaffen, eine der wichtigsten Werte der Schweiz, Freiheit und Unabhängigkeit, aufrecht zu erhalten? Freiheit, die Form der Lebensgemeinschaft zu wählen, die jedem Menschen am besten entspricht und dabei keine Unterschiede in den Rechten und Pflichten vorzufinden.

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Mut braucht weniger Energie als Feigheit

Mut braucht weniger Energie als Feigheit

Juliane Kästner: Herr Fust, sie waren im Laufe Ihres beruflichen Engagements unter anderem Direktor der OSEC und DEZA. Sie setzten sich als Geschäftsführer des Global Humanitarian Forum zusammen mit Kofi Annan und später als Counsil beim World Economic Forum für humanitäre Angelegenheiten ein. Sie waren Mitglied des Club of Rome, sind Präsident von Globethics.net und engagieren sich als Stiftungsrat in verschiedenen Organisationen für Innovation und Umwelt.

Wir befinden uns wieder in einer Globalisierungsphase mit vielen Veränderungen. Ich bezweifle jedoch, dass die Werte, zu denen wir erzogen wurden, heute bereits wieder obsolet sind.

Walter Fust: Ja, das bezweifle ich auch. Die Frage stellt sich: Wie ändert sich der Kontext? Ist die Wertebasis, an der wir uns orientieren, noch die gleiche?

Heute wird diese Diskussion über die Entwicklung von Wirtschaft, Sozialem und Umwelt geführt. Ich glaube, dass diese drei Grössen, dieses fragile Dreieck sehr tief im Bewusstsein der Menschen verankert ist. Und die Grundfläche dieses Dreiecks bildet das Regelwerk für ein gutes Zusammenleben, die Ethik.

Mit der Globalisierung, vor allem aber mit den Mitteln der Telekommunikation, ist es heute sehr leicht, miteinander in Verbindung zu treten. Aber „Connectivity“, wie man so schön sagt, allein genügt nicht. Das ist die technische Ebene. Anschliessend kommt die emotionale, die kulturelle Ebene. Und da sehe ich die meisten Brüche, weil es zum Teil an der interkulturellen Kompetenz mangelt. Den Anderen zu verstehen, heisst auch, seine eigene Kultur zu verstehen und zu akzeptieren. Man benötigt einen Referenzpunkt, an den man zurückkehren oder den man ändern kann. Und so verhält es sich auch mit den Werten.

Es gibt ja die schöne Metapher des „kulturellen Eisbergs“. Das Eis, welches aus dem Wasser ragt, ist das, was von der Kultur sichtbar ist und was sich verändert. Aber die 10/11-tel, die sich unter der Oberfläche befinden, verändern sich nicht so schnell. Diesen Teil muss man jedoch kennen, wenn man die Veränderungen an der Oberfläche verstehen will. Und ich glaube, da liegt die grosse Unsicherheit und Herausforderung.

Zu welchen Werten und Tugenden wurden Sie selbst erzogen?

Die Werte, die damals galten waren Respekt, Zuverlässigkeit, Seriosität, Konzentration auf die Aufgabe. Das war damals das Verständnis von Dauerhaftigkeit. Man soll nicht über die Verhältnisse leben und die Natur zu schätzen galt als nachhaltig.

Ich bin im Toggenburg in einer dörflichen Kultur aufgewachsen. Dort hatte das Unternehmertum und das Kapital noch ein Gesicht. Auch wenn es teils Aktionärsgesellschaften waren, gab es Unternehmer, die sich für das unmittelbar Soziale in ihrem Unternehmen und im Dorf einsetzten. Heute nennt man das salopp die „Corporate Social Responsibility“. Ist das ein Ersatz für die eher patriarchal anmutenden, früheren Unternehmen, die eine Art soziales Gewissen haben mussten, weil sie darauf angewiesen waren, gute Mitarbeiter zu finden und weil man sich vor Ort kannte?

Haben Sie das Gefühl, dass wir heute an einem Punkt stehen, an dem ein Wertewandel bevorsteht?

Ich glaube, dass es heute eine Art Zone in den Wohnquartieren nahe der Städte gibt, in die die Menschen kommen, um über Nacht zu wohnen. Diese Menschen zeigen wenig Engagement für das Gesellschaftliche oder haben keine Zeit dafür. Das sind auch politisch gesprochen jene Kreise, die nicht genau wissen, wohin sie gehören. Am Schluss kommt es darauf an, wo sich das Individuum bzw. die Familie verwirklichen kann. Verwirklichen kann sich ein Mensch ja nur, wo er sich zuhause fühlt. Wenn er Arbeit oder Zugang zu Arbeit hat, wenn er sozio-kulturell Anschluss findet, wenn er den Eindruck hat, dass das Umfeld und die Umwelt intakt sind. Es gibt natürlich auch Menschen, denen das nicht so wichtig erscheint und die dann eher in das Inkognito abtauchen. Sie wissen eigentlich nicht mehr, was ihre Identität ist. Eine virtuelle Identität ist da viel einfacher.

Ich sehe das oft bei jungen Menschen. Ich habe das Glück, auch noch an einer Universität über interkulturelle Kommunikation unterrichten zu können. Und da zeigt sich immer wieder, in welchen Welten sich die jungen Menschen bewegen, zum Teil auch wie oberflächlich die Wertekenntnisse sind.

Ich befragte zwei Nachbarskinder, zu welchen Tugenden sie erzogen werden und wie sich diese in ihrem Alltag in der Schule bewähren, insbesondere im Rahmen von Gruppendynamiken, die sehr stark sind.

Die Frage ist auch oft: Wie bringt man die eigene Identität, die eigene Echtheit in Verbindung mit der Zugehörigkeit zu einer Gruppe? Es gibt Menschen, die es verlernt haben, den unbequemen Weg zu gehen und sich zu fragen: Wer bin ich eigentlich? Was zählt für mich? Habe ich eine eigene Meinung? Wie bequem ist es doch, die Meinung anderer zu übernehmen. Diese Menschen haben irgendwann eine Identitätskrise. Diese entsteht, weil sie projizieren, wer sie sein möchten, es aber nicht sind. Sie haben ein Problem mit ihrer Authentizität, sie sind als Person nicht echt, merken das und wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen.

Wie können die jungen Menschen Zugang zum angesprochenen Wissen und Kulturverständnis bekommen?

Es ist zentral, dass sie wissen, wer ihre Bezugspersonen sind. Viele haben Probleme, diese auszuwählen. Oder sie haben sie nicht, wenn sie zuhause den Dialog nicht pflegen können. Das Wort Dialog ist entscheidend, um sie zu diesen Quellen des Wissens zu führen. Vielleicht hat das aber auch damit zu tun, dass viele Menschen verlernt haben, einander zuzuhören. Wenn sie heute im Zug reisen, ist jeder mit seinem Samsung oder seinem iPhone so beschäftigt, dass kaum mehr ein Gespräch entsteht. Vor 20 Jahren war es eine Ausnahme, dass man in einem Zugabteil kein Gespräch führte.

Es gibt unheimlich viele Informationen, die zugänglich sind. Aber das Unbequeme für viele Menschen ist ja, dass sie sich selbst damit auseinander setzen müssen. Ich glaube, früher oder später müssen das alle.

Nehmen wir das Konzept vom Platz und Raum. Alles was ich in einem virtuellen Platz schreibe, geht hinaus in den virtuellen Raum. Dieser globale Raum wird sich immer erinnern. In Kalifornien geht die höchste Selbstmordrate bei den Jugendlichen auf Internet-Mobbing zurück. Kinder und Jugendliche wissen nicht, wie mit diesen Problemen im Netz umzugehen ist, die nicht einfach verschwinden, wenn den Computer abgestellt wird. Das ist ein Zeichen, dass gewisse Werte doch wieder an Bedeutung gewinnen werden.

Welche Werte sind das?

Ich glaube, das sind einerseits Werte im Umgang mit sich selbst. Wer bin ich? Wer möchte ich sein? Und bin ich der, der ich sein möchte? Andererseits, dass ich mich mit Problemen auseinandersetze und ihnen nicht ausweiche.

Ich hatte das Glück, ein Freund von Peter Ustinov sein zu dürfen. Er hat ein Leben lang eine Devise gehabt: Wie kann man Vorurteile vermeiden und abbauen? Peter sagte immer: „Die schlimmsten Urteile sind die Vorurteile.“ Weil man durch sie einen Menschen klassiert, ohne dass man sich mit ihm oder ihr auseinander gesetzt hat, der Person gar keine Chance gibt. Man legt den Menschen irgendwo in eine Schublade. Wir müssen Vorurteile unbedingt wegschaffen.

Warum haben wir diese Wertediskussion nicht breitflächiger in der Schweiz? Vor allem in einem Land, das immer „predigt“, eine Willensnation zu sein. Aber der Wille muss doch auf irgendwelchen Werten abgestützt sein. In den Gesellschaften ist es heute nun mal so, dass sich die Kulturen vermischen. Und da kommt es unweigerlich auch zur Seinsfrage. Ich frage immer wieder auch die Studenten: „Haben Sie heute morgen in den Spiegel geschaut? Haben Sie sich wiedererkannt? Wer sind Sie? Was zeichnet Sie aus? Ich finde es immer wieder ein Erlebnis, wenn junge Menschen plötzlich beginnen, sich mit diesen Fragen auseinander zu setzen. Viele sind auch satt vom reinen Konsumieren und sie suchen Werte.

Sie haben von Echt-Sein gesprochen. Braucht es nicht auch Mut, zu sich zu stehen? In der westlichen Welt ist Homosexualität beispielsweise ein völlig akzeptierter Teil unseres Lebens, unseres Miteinanders. In Russland entwickelt sich diese Selbstverständlichkeit wieder zurück, Homosexualität ist wieder strafbar.

Ich glaube schon, dass es Mut braucht. Aber wahrscheinlich braucht der Mut weniger Energie als Feigheit. Wenn ich zu meiner Echtheit stehe, muss ich diese anderen ja nicht predigen. Ich grenze den Freiheitsgrad anderer dadurch nicht ein.

Was jetzt aber gerade passiert, ob in Russland oder in vielen afrikanischen Ländern, ist eine Auseinandersetzung mit der Geschlechtlichkeit. Das ist ein hohes Politikum geworden. Sie hat früher zum Teil des „Eisbergs der Kultur“ gehört, der unter der Oberfläche lag. Und heute haben bestimmte Personen und Kreise dieses Thema nach oben gebracht und daraus ein Programm gemacht, mit dem sie natürlich etwas ganz anderes bezwecken. Es ist schwierig, diesen Dialog wieder in eine Normalität zurückzubringen, obwohl die Breite der Normen dies heute eher zulassen würde. Die Frage ist auch, wie man diese Normen rechtlich einbindet. Aber ein Recht ist ja immer nur ein Recht, wenn man es auch einfordern kann.

Es gibt auch viele Kreise, die vor allem von ihren verbrieften Rechten sprechen. Das ist richtig so. Sie vergessen jedoch oft, dass es neben den Rechten auch eine andere Dimension gibt: die Pflichten oder Tugenden der Gesellschaft gegenüber. Zum Beispiel die Tugend der Suche nach Wahrheit oder das Bestreben, andere Menschen nicht zu verletzen. Dieser Pflichtenfrage weichen viele Menschen aus. Herr Gauck hat, bevor er Deutscher Bundespräsident wurde, in einer Rede gesagt, dass es manchmal nicht mehr so einfach sei zu wissen, ob das Konsumieren für Menschen wichtiger ist, als ein guter Staatsbürger zu sein.

Was denken Sie zu universellen Werten? Gibt es solche Werte, die uns nationenübergreifend verbinden?

Ja, es gibt sie unbedingt. Man kann sie auch in den Menschenrechten finden. Aber man muss – und das ist mein Plädoyer – dann immer wieder auch den lokalen Kontext verstehen.

Der Bericht der UNO-Kommission über die Frage „Braucht es ein neues Weltethos?“, die seinerseits von Hans Küng präsidiert wurde, beinhaltet grossartige Antworten zu diesen Fragen.

 

Herr Fust, ich bedanke mich ganz herzlich bei Ihnen für dieses Gespräch.

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